Wesenskern

Eine Mutter kommt mit ihrem vierjährigen Duke, um sich die Scuola Vivante anzuschauen. Als möglicher Ort, wo er unterrichtet werden könnte.

Als erstes werde ich mit einem Schraubenzieher erschossen, ein kleines Menschlein, das sich nur quietschend ausdrückt – nicht eben anziehend. Er entdeckt das Keyboard im Musikzimmer. Während des Gespräches der Erwachsenen bleibt er in diesem Zimmer mit dem leuchtend orangen Boden. Ich schaue unbemerkt zur Türe hinein, beobachte, wie er die Tasten zählt, 56, 57… bis 114  halblaut und tief versunken

Wie er fertig ist, trete ich ein und zähle interessiert nach. Duke verzieht sich sicherheitshalber hinter die Türe. Ich komme nur auf 89.  „Hast du die Schwarzen auch mitgezählt?“, frage ich Duke, der inzwischen in sicherem Abstand und sehr wachinteressiert mein Handeln verfolgt. Er nickt.

„Nun tönt es“, sage ich vor mich hin und schalte den Powerknopf ein. Drücke einige Tasten. Danach versinken wir in ein gemeinsames Spiel, Ton um Ton, Kommunikation über die Musik, es spannen sich Fäden hin und her, ich frage ihn ohne Worte, was aus ihm werden möchte.

Scuola Vivante.

Ein feines Fädenspannen. In so kurzer Zeit ist eine Verbundenheit entstanden, eine Begegnung in der Tiefe. Auf dieser Begegnung kann Lernen aufgebaute werden. Ohne Begegnung ist kein Lernen möglich. Kein wirklich tiefes, nachhaltiges Lernen. Ausführen vielleicht aber kein Berühren der eigenen Seele und der fremden zugleich.

Die Scuola Vivante steht für mich für dieses gegenseitige Berühren. Ohne diese Bereitschaft, sich berühren zu lassen auf der Ebene des Seins und den anderen berühren zu wollen ist das Lernen in der Scuola Vivante ein Lernen ohne Substanz, ohne dieser Essenz, welche das Menschsein ausmacht. In dieser Tiefe, in welcher sich die Seelen berühren, kann die Frage nach dem Sein und Werden neu gestellt werden.

„Welche Figur soll ich aus dir befreien?“, soll Michelangelo zu den Marmorblöcken gesagt haben – und hat dabei wunderbare Kunst geschaffen. In der Scuola Vivante stellt sich den Lehrerinnen und Lehrern eine ähnliche Frage – Was will aus dir werden, welchen Lebenstraum trägst du in dir? Was möchte sich aus deinem Kern entwickeln. Wer bist du im Grunde deines Wesens?

Lernen in dieser Tiefe berührt andere Seinsschichten. Es führt zum Menschsein. Die bekannten Schulfächer werden Hilfe zur eigenen Wesensentwicklung. Können helfen, Menschsein und den eigenen Lebensplan zu verstehen.

Die Scuola Vivante schafft den Raum, dass sich das Kind und auch die erwachsene Lehrperson mit seinem/ihrem Wesen befassen kann. Sie schafft Raum, die eigenen Talente zu entdecken, diese zu entwickeln, unter fachkundiger Hilfe zu fördern und sich in der Welt damit zu erproben.

Scuola Vivante. 

Das heisst Kontakt aufnehmen, zu verstehen versuchen, Berührung suchen, die Tiefe zulassen, die Begegnung zulassen, sich in sein Menschsein schauen lassen. Sich darauf einlassen, dass mich jemand anschaut und etwas Verborgenes in mir zu schwingen und zu klingen bringt.

Es macht vielleicht Angst und in dieser Angst hält man sich lieber an mathematische Formeln und Rechtschreiberegeln. Sie sind menschlich unverbindlicher, lassen eine Schutzdistanz zu und sind dennoch scheinbar glasklar richtig oder falsch.

Im Menschsein ist das schwieriger. Es braucht Berührung, es braucht Nähe und Bereitschaft, dieses Menschsein zu fördern und sich fördern zu lassen.

Das ist die grosse Forderung an uns Lehrpersonen, an die Eltern und an die Kinder und Jugendlichen, die hier zur Schule gehen.

Die Frage auch von Gelingen oder Weitersuchen – Ist es schon Zeit für diese Nähe?

In dieser Forderung nach Berührung, nach Nähe, braucht es auch die Nähe zu sich selbst. Die Nähe zu sich selbst aushalten können, sich versöhnen können mit sich selbst – sich daheim fühlen in sich damit man seinen Kern den anderen gerne zeigen mag.

Veronika, 3. September 2007

Dieser Textauszug entstand im Rahmen der „Tagestexte“. Auf der Suche nach Worten und Grafik für Homepage, Broschüre und Scuola Vivante-Logo.

Umgesetzt von der liechtensteinischen Künstlerin Regina Marxer